Soziale Proteste erschüttern Europa

In ganz Europa, Nord wie Süd, nehmen die Proteste gegen die etablierten Parteien zu. Die konkreten Anliegen mögen von Land zu Land verschieden sein, doch der gemeinsame Nenner ist die Ablehnung der alten neoliberalen Ordnung, die wirtschaftliche Zerstörung, rücksichtslosen Sozialabbau und Krieg gebracht hat. Es folgen einige Beispiele.

Frankreich: Macron rettet seine Haut – vorerst. Am brisantesten ist die Lage vielleicht in Frankreich, wo seit Januar Millionen Arbeitnehmer immer wieder gegen Präsident Macrons berüchtigte „Rentenreform“ demonstrieren (vgl. SAS 06/23). Da es in der Nationalversammlung dafür keine Mehrheit gab, mußte die Regierung die Reform schließlich unter Berufung auf Verfassungsartikel 49.3 durchsetzen, der die Verabschiedung von Gesetzen ohne Parlamentsabstimmung ermöglicht.

Daraufhin gab es am 20.3. in der Nationalversammlung ein Mißtrauensvotum, das die Regierung nach langem Gezerre mit den konservativen Les Républicains nur knapp überstand. Macron hatte gedroht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, falls der Antrag angenommen würde, was für einige Abgeordnete noch beunruhigender war, als sich dem Zorn ihrer Wähler zu Hause auszusetzen. Aber die Proteste werden sicherlich weitergehen.

Enorme Unterstützung für niederländische Landwirte. Die Landwirte in den Niederlanden sind empört über die EU-Anordnungen zur drastischen Begrenzung der Stickstoffemissionen um bis zu 50%, die viele Betriebe ruinieren, die Erzeugung stark verringern und die Lebensmittelpreise erhöhen würden. Sie protestieren gegen den Green Deal der EU und das Programm „Farm to Fork“, das eine drastische Verringerung von Viehbestand, Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln usw. vorschreibt, wobei jeder Mitgliedstaat für die Einzelheiten und Zeitpläne der Umsetzung verantwortlich ist.

Am 11.3. folgten etwa 25.000 Niederländer dem Aufruf der Farmers Defense Force (FDF) und der Organisation Gemeinsam für die Niederlande (SvNL) zu einer Demonstration in Den Haag. Der Bürgermeister verbot ihnen, mehr als zwei Traktoren in die Stadt zu bringen, und drohte mit Eingreifen des Militärs, falls sie sich nicht daran hielten.

Einer der wenigen ausländischen Redner war der Koordinator des Schiller-Instituts für den US-Farmgürtel, Bob Baker. Er sagte, daß Menschen weltweit verhungern, sei eine bewußte Politik des „Finanzgeflechts der Londoner City, der Wall Street und Amsterdams“ und des Green Deal, man könne dafür nicht Rußland und China verantwortlich machen.

Die Protestwelle gegen die Stillegung der Landwirtschaft führte zu einem überraschenden Wahlsieg der neuen Partei BoerBurgerBeweging (Bauern-Bürger-Bewegung, BBB) bei den Provinzwahlen am 15.3. Die BBB erhielt mehr Sitze im Senat als die Regierungspartei, eine schwere Niederlage für Ministerpräsident Mark Rutte.

Die Ironie bei diesem Erfolg ist, daß die BBB selbst gar nicht an der Spitze der Bauernbewegung stand, sondern nur auf der Protestwelle reitet. Der Volkszorn richtet sich auch gegen die Kriegspolitik der EU, die den Erdgaspreis in die Höhe treibt und schon viele Familienbäckereien ruiniert hat.

Streikwelle in Großbritannien wächst. Hunderttausende Arbeitnehmer streikten am 15.3. im Vereinigten Königreich, darunter Lehrer, Lokführer der Londoner U-Bahn, Beamte, Ärzte und Krankenschwestern, Rechtsanwälte, Universitätsmitarbeiter und sogar BBC-Journalisten. Die Arbeitsniederlegung des Zugpersonals der Gewerkschaft ASLEF und der Transportarbeiter-Gewerkschaft RMT legte in London das gesamte Zug- und U-Bahnnetz lahm. Nach einigen Schätzungen beteiligten sich über eine halbe Million Beschäftigte an dem Aktionstag, der sich mit mehreren laufenden Streiks der Gewerkschaften des öffentlichen Sektors überschnitt.

Es war die größte Machtdemonstration der Gewerkschaften seit dem Beginn der Streiks im vergangenen Jahr, als die galoppierende Inflation den Lebensstandard der Bevölkerung hart zu treffen begann (s. SAS 6/23). Die Inflation in Großbritannien liegt derzeit über 10%.

Unter den Streikenden waren etwa 130.000 Mitglieder der Gewerkschaft für öffentliche und kommerzielle Dienstleistungen (PCS), die die Arbeit in Ministerien und Behörden wie dem Grenzschutz niederlegten. Die Beschäftigten streiken, weil die Gehälter nicht mit der Inflation Schritt halten, aber auch wegen Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit und Renten. PCS-Generalsekretär Mark Serwotka sagte, es sei ein Skandal, daß manche Arbeitnehmer in staatlichen Dienstleistungen so schlecht bezahlt werden, daß sie selbst auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Die Aktionen überschnitten sich mit der Ankündigung des Haushalts durch Schatzkanzler Jeremy Hunt, der den Streikenden nicht entgegen kam.

Generalstreik in Griechenland aus Protest gegen das „Verbrechen von Tempi“. In den griechischen Großstädten gingen am 16.3. erneut Zehntausende auf die Straße, um Gerechtigkeit für die Opfer des „Verbrechens von Tempi“ – das tödliche Zugunglück vom 28.2. (vgl. SAS 11/23) – zu fordern. Der Streik der Eisenbahngewerkschaften wurde von den Gewerkschaftsverbänden des öffentlichen Sektors (ADEDY) und der Privatwirtschaft (GSEE) unterstützt. Alle öffentlichen Verkehrsmittel standen still, einschließlich Eisenbahnen, Schiffe und Flughäfen, und die Schulen blieben an dem Tag geschlossen, weil Schüler und Lehrer den Streik unterstützten.

Die Forderungen der Gewerkschaften und anderer Organisationen betreffen nicht nur das Zugunglück, sondern die gesamte Privatisierung, die in Griechenland betrieben wird. Zu den Forderungen gehören moderne, sichere und billige Massenverkehrsmittel, die Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens, eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle sowie Sofortmaßnahmen zum Schutz vor Überschwemmungen, Bränden und Erdbeben, u.a. Erdbebenschutz in Schulen, Hochschulen, Krankenhäusern und am Arbeitsplatz.

Die Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, die sehr ungeschickt und durchsichtig versucht, die Verantwortung für das durch die Privatisierung verursachte Zugunglück mit 57 Toten von sich zu schieben, verlegte sich auf den Einsatz von Bereitschaftspolizei, Tränengas und Blendgranaten, um die Demonstrationen aufzulösen.

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