Was der Weltgerichtshof in der Frage des Völkermords in Gaza entschieden hat

Die Reaktionen auf das vorläufige Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 26.1. zu Südafrikas Klage gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza enthalten eine große Ironie. Sie besteht darin, daß sowohl Befürworter als auch Gegner des israelischen Vorgehens mit dem Urteil höchst unzufrieden waren. Die Verteidiger Israels, u.a. Mitglieder der Netanjahu-Regierung, verkündeten zunächst einen „Sieg“, weil kein Waffenstillstand gefordert wird, griffen das Gericht aber auch an, weil es, so Verteidigungsminister Gallant, einen „antisemitischen Antrag auf Erörterung des Vorwurfs des Völkermords in Gaza“ akzeptierte. Diejenigen, die von der Entscheidung enttäuscht sind, werfen ihrerseits dem IGH Korruption und Angst vor der „Israel-Lobby“ vor.

Tatsächlich haben „beide Seiten“ die Bedeutung des Urteils nicht erkannt und reagieren nur nach dem Profil ihrer Anhänger. Bei genauem Hinsehen bestätigt der Text, daß das Urteil Netanjahus Apologeten herausfordert und einen wichtigen ersten Schritt zur Wiederherstellung der Verantwortlichkeit in strategischen Angelegenheiten darstellt.

Die sechs Anordnungen lauten: Israel muß

1. „Alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung aller in der Völkermordkonvention definierten Handlungen zu verhindern“, d.h. dem Töten und allen Handlungen, die den Palästinensern schweren körperlichen und seelischen Schaden zufügen, ein Ende setzen, und es muß aufhören, „absichtlich Lebensbedingungen zu schaffen, die auf die physische Zerstörung dieser Gruppe abzielen, und Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb dieser Gruppe zu verhindern“.

2. Sicherstellen, „daß sein Militär mit sofortiger Wirkung keine der in Punkt 1 beschriebenen Handlungen begeht“.

3. Alle Maßnahmen ergreifen, um „die direkte und öffentliche Aufforderung zum Völkermord zu verhindern und zu bestrafen“.

4. Sofort Maßnahmen ergreifen, um „die dringend benötigte Grundversorgung und humanitäre Hilfe bereitzustellen, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen zu verbessern“.

5. Wirksame Maßnahmen ergreifen, „um die Zerstörung von Beweismaterial im Zusammenhang mit den oben beschriebenen Vorwürfen zu verhindern und es zu sichern“.

6. „Vorlage eines Berichts an den Gerichtshof über alle Maßnahmen … innerhalb eines Monats ab dem Datum dieser Anordnung“.

Südafrikas Präsident Ramaphosa begrüßte die Entscheidung enthusiastisch als „Sieg für das Völkerrecht“. Er betonte, die „Anordnung ist für Israel bindend“ und „stellt einen wichtigen ersten Schritt in unserem Bestreben dar, den Menschen in Gaza Gerechtigkeit zu verschaffen“. Außenministerin Naledi Pandor wandte sich an diejenigen, die sich beschweren, weil die Richter keinen sofortigen Waffenstillstand anordneten: „Wenn man die Anordnung liest, muß es implizit einen Waffenstillstand geben“, wenn Israel die Forderungen erfüllen soll.

Nach der Entscheidung über die von Südafrika beantragten vorläufigen Sofortmaßnahmen wird der IGH nun die Anklage wegen Völkermordes gegen Israel umfassend prüfen. Ein endgültiges Urteil wird erst in Monaten erwartet. Den vollständigen Text der Verfügung finden Sie unter https://www.icj-cij.org/index.php/node/203447.

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