Arlacchi: „Die Taliban-Bedrohung in Afghanistan ist übertrieben“

Pino Arlacchi, der auf jahrzehntelange Erfahrung in Afghanistan zurückblicken kann -erst als Direktor des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung und dann als Afghanistan-Berichterstatter des Europaparlaments -, rief dazu auf, Afghanistan sein Schicksal selbst oder allenfalls gemeinsam mit seinem Nachbarn bestimmen zu lassen. In seiner Konferenzrede am 31.7. stellte Arlacchi fest, Zentralasien sei keine instabile Region und Afghanistans Nachbarländer hätten in den letzten Jahren respektable Wachstumsraten verzeichnet. Sie hätten ein Interesse an der Stabilität des Landes und könnten dabei helfen, aber man müsse die Taliban und die Zentralregierung selbst entscheiden lassen:

„Dann werden Sie sehen, daß die Konflikte abnehmen werden. Es stimmt nicht, daß der Abzug der USA und der NATO ein neues Chaos auslösen wird. Ein größeres Chaos als jetzt ist schwer vorstellbar. In Afghanistan herrscht schon seit 40 Jahren Chaos.“ Die meisten Berichte über Bedrohungen der bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte seien „extrem übertrieben“.

„Die wirklichen Probleme, über die wir heute glücklicherweise sprechen, sind die Wasserversorgung, die Infrastruktur und die Art und Weise, wie man sich entwickeln kann; das ist das Hauptproblem für Afghanistan und seine Nachbarn. Wir werden von diesem geopolitischen Alptraum vergiftet, alles sei eine Frage der Sicherheit, des geopolitischen Gleichgewichts usw. Glücklicherweise, und das ist die beste Chance für die Zukunft Afghanistans, verändert sich die Welt, sie ist längst multipolar geworden; man muß es nur erkennen.“

Zum Opium-Problem sagte Arlacchi, die Taliban bauten kein Opium an, sie besteuern es nur, wie viele andere Waren auch, und wollten nicht gegen die Bauern vorgehen. Er ist jedoch aufgrund seiner Erfahrung überzeugt, daß eine Politik der Substitution des Opiumanbaus machbar ist. Dies könne die afghanische Regierung sogar allein schaffen, da der Wert der Opiumproduktion in Afghanistan nur 250 Mio. $ beträgt. Daraus würden 18 Milliarden, wenn es in Form von Heroin auf dem europäischen Markt ankommt. Arlacchi nannte als Beispiel Safran, ein typisches afghanisches Produkt, das rentabler als Opium ist und mit einem nationalen Programm gefördert werden könnte.

Zu den Vorteilen möglicher chinesischer Investitionen in Afghanistan sagte Arlacchi, China sei ein großer Nachbar und habe jedes Recht, im Rahmen der BRI und anderer Initiativen in Afghanistan zu investieren. Er sieht keine Gegenargumente dafür. Die Korruption sei ein großes Problem, aber es gebe Möglichkeiten, sie unter Kontrolle zu bringen, indem man „lebensfähige Projekte“ durchführt. Der Bau einer Schule koste 200.000 $, ein Krankenhaus 2 Mio. $. Das seien keine hohen Summen. Aber wenn sich sogenannte Entwicklungsagenturen darum kümmern, stiegen die Kosten auf das Zehn- oder Hundertfache. Mit dem verfügbaren Geld hätte man hundert solcher Krankenhäuser bauen können. Und heute sterben in Afghanistan 25.000 Babys jährlich bei der Geburt.

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