Wo bleiben die Menschenrechte in Gaza?

Die Feiertage und der Jahreswechsel brachten keine Ruhe für die Bevölkerung von Gaza, wo die Zahl der Todesopfer inzwischen 30.000 übersteigt. Die Bombardierungen gehen weiter, und der Mangel an Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Strom wird immer schlimmer. Für die Menschen im Westen ist die Frage äußerst beunruhigend, wie ihre Regierungen eine solche eklatante Barbarei dulden oder gar gutheißen können. Und dies alles, während sie ständig von Menschenrechten und moralisch überlegenen „westlichen Werten“ reden. Trotzdem wächst der Chor der Stimmen, die ein Eingreifen fordern:

Pfarrer Dr. Munther Isaac, Pastor der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem, sprach das Thema in seiner Predigt am 23.12. eindringlich an; ein Auszug:

„Das Schweigen der Welt quält uns. Die Führer der sogenannten ,freien Welt‘ gaben einer nach dem anderen grünes Licht für diesen Völkermord an einer gefangenen Bevölkerung. Sie boten ihm Deckung. Sie sorgten nicht nur dafür, daß die Rechnung im voraus bezahlt wurde, sondern verschleierten auch die Wahrheit und die Zusammenhänge und sorgten so für politische Deckung. Und noch eine weitere Ebene kam hinzu: die theologische Deckung, durch die westliche Kirche…

Die Heuchelei und der Rassismus der westlichen Welt sind durchsichtig und entsetzlich! … An unsere europäischen Freunde: Ich möchte nie wieder hören, wie ihr uns über Menschenrechte oder internationales Recht belehrt… Wir sind empört über die Mittäterschaft der Kirche. Um es klar zu sagen: Schweigen ist Mittäterschaft, und leere Aufrufe zum Frieden ohne Waffenstillstand und ohne Ende der Besatzung, und seichte Worte des Mitgefühls ohne direktes Handeln – all das steht unter dem Banner der Mittäterschaft. Das also ist meine Botschaft: Gaza ist heute zum moralischen Kompaß der Welt geworden…

Wenn Sie nicht entsetzt sind über das, was hier geschieht, wenn Sie nicht bis ins Mark erschüttert sind, dann stimmt etwas mit ihrer Menschlichkeit nicht. Wenn wir als Christen nicht empört sind über diesen Völkermord und darüber, daß die Bibel als Waffe benutzt wird, um ihn zu rechtfertigen, dann stimmt etwas mit unserem christlichen Zeugnis nicht, und die Glaubwürdigkeit des Evangeliums ist gefährdet!“

Chas Freeman, US-Diplomat im Ruhestand: „eine Katastrophe für Israel und die USA“. Freeman ist ein offener Gegner der Außenpolitik Washingtons mit viel Erfahrung in Südwestasien. In einem Interview am 27.12. im Podcast Daniel Davis Deep Dive warf er der Regierung Netanjahu vor, „mit öffentlich erklärter Absicht einen Völkermord zu begehen. Es ist ganz klar, daß sie beabsichtigen, den Gazastreifen und das Westjordanland zu entvölkern. In Israel taucht inzwischen Werbung von Immobilienmaklern auf, die versprechen, Ihnen eine Villa am Strand von Gaza zu bauen.“ Israel werde „aus diesem Krieg als Paria-Staat hervorgehen, nach einer gewissen Zeit wird sogar die Unterstützung aus den Vereinigten Staaten sehr begrenzt sein“, warnte er. Für die USA werde es eine Katastrophe sein, daß sie Netanjahu einen „Blankoscheck“ ausstellten, so der Ex-Botschafter. „In dem Moment, in dem die Vereinigten Staaten anfangen, über Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit usw. zu sprechen, wird man sie nur auslachen. Niemand wird es ernst nehmen… Der Rest der Welt wird es als pure Heuchelei empfinden.“

Opposition gegen Netanjahu wächst in Israel. Laut neuen Umfragen fordern 70% der Bevölkerung den Rücktritt des Ministerpräsidenten. „Setzt König Bibi jetzt ab“, lautete der Titel des Leitartikels in Haaretz am 25.12. Darin hieß es, die Voraussetzungen seien jetzt da, um die großen Proteste gegen Netanjahu und seine Regierung wieder aufzunehmen, die Israel vor dem 7.10. monatelang erschüttert hatten. Die Proteste richteten sich gegen Bibis diktatorische „Justizreform“, die der Oberste Gerichtshof jetzt blockiert hat. „Ministerpräsident Benjamin Netanjahu trägt die größte Schuld an den sicherheitspolitischen, diplomatischen und sozialen Versäumnissen, die zu dem Massaker vom 7.10. und dem Ausbruch des Krieges geführt haben.“ Daher „ist nichts mehr gerechtfertigt, als ihn abzusetzen“.

Sehr wichtig ist, daß der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert (2006-09) in Haaretz am 28.12. ein vollständiges Ende der Kämpfe und den Austausch aller Geiseln und Gefangenen forderte, und dazu aufrief, daß Ägypten Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern vermittelt. Olmert ist kein Linker und war nie in der Arbeitspartei.

Südafrika erhebt formell Anklage gegen Israel wegen Völkermordes. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag (nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof) gab am 30.12. bekannt, daß die südafrikanische Regierung Klage gegen Israel wegen Völkermordes im Gazastreifen erhoben und vorläufige Maßnahmen zu dessen Beendigung gefordert hat. Die IGH-Erklärung zitiert aus der Klage: „Israels Handlungen und Unterlassungen haben… Völkermord-Charakter, weil sie mit der erforderlichen spezifischen Absicht begangen werden, … die Palästinenser in Gaza als Teil der breiteren palästinensischen nationalen, rassischen und ethnischen Gruppe zu vernichten.“ Israels Verhalten „verstößt gegen seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention“.

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