Hintergrund zum Irak: inner-schiitisches Blutbad abgewendet, aber die Gefahr bleibt bestehen

Die amerikanisch-britische Invasion des Irak 2003 und der anschließende Versuch, ein neues politisches System nach dem Vorbild des britischen Parlamentarismus zu schaffen, hatten einen gescheiterten Staat zur Folge und waren ein Rezept für Chaos und Bürgerkrieg. Diese Realität wurde am 1.8. erneut deutlich, als in der Grünen Zone in Bagdad, wo die Regierungs- und Parlamentsgebäude liegen, die beiden großen schiitischen politischen Blöcke sich beinahe Straßenschlachten lieferten. Bei den Blöcken handelt es sich um den des schiitischen Geistlichen Muktada Al-Sadr und um ihre Rivalen vom „Schiitischen Koordinationsrahmen“. Ohne in Einzelheiten zu gehen, kann man sagen, daß sich der Konflikt seit der Parlamentswahl im Oktober 2021 und den mehrfachen Versuchen einer Regierungsbildung aufgestaut hat.

Unabhängige irakische Experten sehen den wahren Grund für die jüngsten chaotischen Ereignisse darin, daß ein politischer Kurswechsel in dem Land, das regional und international eine Schlüsselposition einnimmt, verhindert werden soll. Unmittelbarer Auslöser für Al-Sadrs Entscheidung, am 30.7.das Parlament zu stürmen, war die Wahl des neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten, Mohammed Shiaa Al-Sudani, der wegen seiner Integrität und seines Kampfes gegen Korruption als „Mister Saubermann“ bekannt ist. Er ist auch ein Befürworter der Umstellung der irakischen Wirtschaft von der totalen Abhängigkeit von Ölexporten zur Einfuhr aller lebensnotwendigen Güter auf industrielle und landwirtschaftliche Produktion. Dies würde natürlich massive Investitionen in den Wiederaufbau und die Modernisierung der Infrastruktur erfordern.

Interessanterweise war Al-Sudani als Parlamentsabgeordneter im April zusammen mit dem Koordinator des Schiller-Instituts für Westasien, Hussein Askary, Teilnehmer einer Konferenz der Universität Bagdad über „Die Neue Seidenstraße: zuversichtliche Schritte zum Wohlstand des Irak“. Al-Sudani sprach sich klar für eine großangelegte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China auf der Grundlage des Prinzips „Öl für Wiederaufbau“ aus, um finanzielle Engpässe bei Infrastrukturinvestitionen zu vermeiden, unter denen die irakische Wirtschaft seit 18 Jahren leidet. Nach dem Seminar twitterte Al-Sudani:

„Die Bevölkerung muß Druck ausüben, um die Regierung zur Unterzeichnung eines umfassenden strategischen Kooperationsabkommens mit China zu drängen. Das ist eine realistische Lösung, um den Irak aus seiner derzeitigen tragischen wirtschaftlichen Lage herauszuholen, die Wirtschaft wiederzubeleben und Tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen und damit die Lebensbedingungen aller Bürger zu verbessern.“

Irakische Analysten verweisen auch auf die jüngsten Äußerungen von US-Präsident Biden in Saudi-Arabien, die USA hätten nicht vor, im Nahen Osten ein Vakuum zu hinterlassen, das China füllen kann. Sie argumentieren, daß die USA, Großbritannien, die Golfstaaten, die Türkei und sogar der Iran mit dem Elend im Irak nicht unzufrieden sind, weil es ihnen verschiedene Vorteile verschafft. Politisch kontrollieren Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) viele sunnitische Gruppen, der Iran einen Großteil der schiitischen Gruppen. Der Irak ist der größte Importeur landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der Türkei und dem Iran, Jordanien erhält irakisches Öl mit einem großen Preisnachlaß. Großbritannien hat im Ölsektor des Landes große wirtschaftliche Interessen, kontrolliert aber auch lebenswichtige Einrichtungen wie den zivilen Luftverkehr, Kraftwerke (über Partner) und sogar Sicherheitsfirmen. Ein Großteil der von Politikern gestohlenen Ölgelder fließt in britische und amerikanische Banken oder wird in Immobilien in den VAE, Jordanien oder der Türkei investiert. Die USA haben noch immer Militärstützpunkte im Land, über die sie Gebiete in Syrien kontrollieren und dem Iran entgegentreten können. Auch die Türkei verfügt über drei Stützpunkte, allerdings ohne rechtliche Vereinbarung.

Diese surrealistisch instabile, aber eingegrenzte Situation ist nicht günstig für das Entstehen einer starken irakischen Regierung, die die Ressourcen des Landes zum Aufbau einer starken Industrie und Landwirtschaft, Militär und Sicherheitskräften nutzen würde. Ein positives Ergebnis der jüngsten Turbulenzen ist aber die offene Diskussion über eine Abschaffung des von den Anglo-Amerikanern unterstützten parlamentarischen Systems und eine Verfassungsänderung, um ein republikanisches Präsidialsystem mit einem direkt gewählten Präsidenten zu schaffen.

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