Dmitrij Trenin: Atomwaffen müssen wieder Teil der strategischen Gleichung werden

Dmitrij Trenin, Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender Forschungsstipendiat am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen sowie Mitglied des Russian International Affairs Council (RIAC), hat sich in der jüngsten Debatte über möglichen Kernwaffeneinsatz zu Wort gemeldet. Die Debatte hatte Sergej Karaganow mit seinem Artikel „Eine schwierige, aber notwendige Entscheidung“ in Russia in Global Affairs vom 13.6. angestoßen. Karaganow, Vorsitzender des Russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Angelegenheiten an der Moskauer Wirtschaftshochschule, argumentierte darin, ein taktischer Atomschlag Rußlands im Ukraine-Konflikt könne die Menschheit vor einer noch größeren Katastrophe bewahren.

Trenins Antwort erschien auf Englisch auf der RIAC-Website unter dem Titel „Die USA und ihre Verbündeten spielen Russisches Roulette – man könnte fast meinen, sie legen es auf einen Atomkrieg an“. Er stimmt darin zunächst Karaganows Argument zu, daß in politischen und militärischen Kreisen die Angst vor einem Atomwaffeneinsatz in bewaffneten Konflikten schwinde. Obwohl Atomwaffen für Rußland nie „vom Tisch“ waren, habe das „die USA und ihre Verbündeten nicht davon abgehalten, sich direkt einzumischen“ und die Lieferung von Waffen in die Ukraine Schritt für Schritt zu steigern und in jeder Phase die russische Reaktion zu testen. Das sei wie „Russisches Roulette spielen“. Aber Trenin argumentiert auch, wenn man Karaganows Vorschlag folge, könne das letztendlich zu einem nuklearen Armageddon führen. Stattdessen müsse der Kreml genau darüber aufklären, unter welchen Umständen Rußland Atomwaffen einsetzen würde.

Trenin schreibt: „Die USA haben sich nun die Aufgabe gestellt – was während des Kalten Krieges undenkbar war -, zu versuchen, eine andere nukleare Supermacht in einer strategisch wichtigen Region zu besiegen, ohne auf Atomwaffen zurückzugreifen, indem sie ein Drittland bewaffnen und steuern.“ Offensichtlich seien die Amerikaner überzeugt, daß „die russische Führung mit ihren Warnungen vor dem Einsatz von Atomwaffen blufft“, und reagierten nicht einmal auf die Stationierung von Atomwaffen in Weißrußland. „Diese ‚Furchtlosigkeit‘ ist eine direkte Folge der geopolitischen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte und des Generationswechsels an der Macht in den USA und im Westen im allgemeinen.“

„Die Angst vor der Atombombe, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, ist verschwunden. Atomwaffen wurden aus der Gleichung gestrichen. Die praktische Schlußfolgerung ist klar: Es besteht kein Grund, vor einer solchen russischen Reaktion Angst zu haben. Das ist ein brandgefährliches Mißverständnis.“

Trenin wendet sich gegen Karaganows Argument und schreibt, möglicherweise würden die USA nicht sofort mit Atomwaffen antworten, wenn Rußland sie in der Ukraine einsetzt, doch eine spätere Eskalation könnte asymmetrische Reaktionen der USA auslösen, und dies wiederum könnte zu einem umfassendem Krieg zwischen Rußland und der NATO mit der Möglichkeit eines nuklearen Schlagabtausches führen.

Daher sollte der Kreml „unsere nukleare Abschreckungsstrategie unter Berücksichtigung der praktischen Erfahrungen des Ukraine-Konflikts präzisieren und modernisieren“. Dieser Prozeß sollte „von einem glaubwürdigen Dialog sowohl mit unseren strategischen Partnern als auch mit neutralen Staaten begleitet werden, in dem die Motive und Ziele unseres Handelns erläutert werden“. Die Aussicht auf einen Kernwaffeneinsatz „sollte ein Anreiz sein, die Eskalation des Krieges zu begrenzen und zu stoppen und letztendlich den Weg für ein zufriedenstellendes strategisches Gleichgewicht in Europa zu ebnen“.

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