Anti-Kriegs-Stimmen gewinnen in Deutschland an Boden

Eine Online-Petition gegen die westliche Eskalation des Krieges in der Ukraine, die in der vergangenen Woche innerhalb kürzester Zeit über eine Viertelmillion Unterschriften erhielt, hat dazu beigetragen, die öffentliche Debatte in Deutschland gegen die Kriegspartei zu verschieben. Der von 28 bekannten Intellektuellen und Künstlern unterzeichnete Offene Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz warnt vor einer unkontrollierten Eskalation in einen Atomkrieg.

Hauptinitiatorin ist Alice Schwarzer, die Herausgeberin der führenden feministischen Zeitschrift Emma, die am 1.5. in der Bild-Talkshow „Die richtigen Fragen“ erklärte: „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ernsthaft von der Gefahr eines neuen Weltkrieges überzeugt.“ Wenn die russische Führung die Gefahr eines mit Atomwaffen geführten Konflikts als sehr konkret beschreibe, „dann müssen wir das einfach ernst nehmen und sehr sorgfältig abwägen“.

Der offene Brief wurde sofort heftig angegriffen, doch anstatt sich zurückzuziehen, hielten die Initiatoren energisch dagegen. Schwarzer warf ihren Kritikern vor, „mit dem Panzer direkt in eine Katastrophe zu fahren“. Peter Weibel, österreichischer Kunstmanager und Mitinitiator des Briefes, bekräftigte die Warnung vor einem Atomkrieg und fügte hinzu: „Das Kapitel der NATO-Osterweiterung ist in meinen Augen der entscheidende Punkt.“ Es sei immer wieder bewiesen worden, daß der Westen Gorbatschow bei der deutschen Wiedervereinigung versprach, daß es keine NATO-Osterweiterung geben würde.

Auch andere Unterzeichner wie der Kabarettist Dieter Nuhr, die Professorin Ulrike Guerot und die Autorin Juli Zeh wehrten sich gegen die Hexenjagd, wobei Zeh warnte, Putin könne die Dynamik der Entwicklung nicht mehr allein steuern und der Westen müsse wesentlich zur Deeskalation beitragen. Die breite öffentliche Aufmerksamkeit für den offenen Brief machte auch deutlich, daß viele Sozialdemokraten (denen die meisten Unterzeichner nahestehen) mit der antirussischen Politik von Bundeskanzler Scholz zutiefst unzufrieden sind. Dies mag zu der massiven Niederlage der SPD (40% weniger Stimmen) bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 8.5. beigetragen haben.

Sehr bedeutsam ist auch die Intervention von General a.D. Harald Kujat, dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, dem höchsten militärischen Amt des Landes. In einem Interview in der Mai-Ausgabe von Cicero sagt er unverblümt: „Die Hauptakteure in diesem Krieg sind nicht die Ukraine und Rußland, sondern Rußland und die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben den Schwerpunkt ihrer Strategie geändert: Center of Gravity ist nicht mehr Schutz und Beistand der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Rußlands, sondern Rußland als geopolitischen Rivalen nachhaltig zu schwächen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat Ende April bei einem Besuch in Kiew erklärt, daß die Vereinigten Staaten ,Rußland so weit geschwächt sehen wollen, daß es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann‘.“ Kujat rief insbesondere Deutschland und Frankreich auf, die US-Regierung zu einer Verhandlungslösung zu bewegen.

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